Laufen, Lächeln, Loslassen ...  

Self-Transcendence 700-Mile-Race (1.126,5 km Lauf) in New York:
13. September bis 2. Oktober 2004
                      

„Du solltest mehr lächeln. Wir wollen Dich lächeln sehen, wenn es im Internet Fotos vom Lauf gibt.“ Dieser Rat eines Freundes kam mir in den Sinn. Es war am elften Tag des Laufes und ich musste gerade zur Kenntnis nehmen, dass ich die 700 Meilen (1.127 km) nicht im vorgesehenen Zeitlimit schaffen würde. Mir war alles andere als nach Lächeln zumute. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben und war zutiefst enttäuscht. Plötzlich hatte ich kein Ziel mehr vor Augen. Stattdessen tat sich ein Abgrund auf und ich stürzte förmlich ins Bodenlose.

700 Meilen in 13 Tagen. Mit dieser Vision war ich aufgestanden und zu Bett gegangen. Dieses Ziel vor Augen hatte mich Müdigkeit und Schmerz überwinden lassen. Mein Ziel vor Augen war ich auf der Laufstrecke geblieben, Runde für Runde, Meile um Meile, Tag für Tag. Und nun?

Es hatte ja alles ganz gut begonnen. Ich war mit großer Freude und Dankbarkeit nach New York gekommen, mein Mann begleitete mich als Betreuer. Zwar hatte ich mich nicht systematisch auf diesen Lauf vorbereitet, aber in den vergangenen 12 Monaten absolvierte ich immerhin sehr viele lange Läufe: 8 Marathons, 3 Ultra-Marathons und einen 6-Tage-Lauf. Natürlich konnte ich mir nicht vorstellen, 13 Tage lang auf den Beinen zu sein und es plagten mich immer wieder große Zweifel. Aber irgendwie überwog am Start doch das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Zunächst verläuft alles nach Plan. Am ersten Tag schaffe ich 75 Meilen (121 km). Die nächsten zwölf Tage muss ich, um in der vorgesehenen Zeit zu bleiben,  im Schnitt ca. 52 Meilen (84 km) täglich absolvieren. Mein Tagesablauf sieht ungefähr so aus: 4:30 Uhr aufstehen, dann laufe ich ca. 20-22 Meilen bis Mittag mit einer kleinen Pause,  dazwischen gibt es um 12:00 – 13:00 Uhr Mittagspause, danach ca. 30-32 Meilen bis Mitternacht, alle 10 Meilen vergönne ich mir eine kleine Pause. Die Rennstrecke wird mein neues Zuhause; geschlafen wird in Zelten und keiner der Läufer verlässt während des gesamten Laufes das Areal.

Am Ende der ersten  Woche bekomme ich eine Sehnenscheiden- und Beinhautentzündung am rechten Bein. Nun ist es mit dem Laufen vorbei und ich kann nur noch gehen. Auch gehend gelingt es mir, ca. 50 Meilen (121 km) am Tag zu erreichen, allerdings muss ich mir die Zeit noch besser einteilen.

Am 10. Tag streift uns der Ausläufer eines Orkans aus Florida. Das Wetter ist stürmisch und es regnet in Strömen. Gegen Abend erreiche ich völlig durchnässt die 500-Meilen-Marke (805 km). Ich bin glücklich. Umziehen, essen, etwas ausruhen, wieder hinaus. Inzwischen ist die Laufstrecke stellenweise so überschwemmt, dass man bis zu den Knöcheln im Wasser watet. Ich ziehe dünne, elastische Gummistiefel über meine Laufschuhe. Der Regenmantel ist nicht ganz dicht - nach zwei Runden bin ich wieder durchnässt. Nochmals ziehe ich mich um. Mein  Mann dichtet die Regenkleidung  mit Klebeband ab. Mir ist kalt, ich bin todmüde, ich habe Schmerzen an den Fersen und ich werde immer langsamer. Bis 2:00 Uhr Früh bin ich unterwegs, doch statt der nötigen 20 Meilen schaffe ich nur 7!

Am folgenden Tag bemühte ich mich, meinen Rückstand aufzuholen. – Vergeblich. Ich hatte eine sehr schmerzhafte Entzündung an beiden Achillessehnen bekommen.  Nun konnte ich auch nicht mehr gehen. – Ich humpelte nur noch.

Das  Ziel war unerreichbar geworden. Warum sollte ich jetzt überhaupt noch weitermachen? Warum nicht endlich ausschlafen? Warum war ich überhaupt hierher gekommen?

Ich war hierher gekommen, um ein Abenteuer zu erleben. Der Lauf war für mich eine Abenteuerreise - eine Abenteuerreise nach Innen. Eine Reise, auf der ich mich selbst besser kennen lernen würde. Es galt dabei, unbekannte Wege zu beschreiten, Herausforderungen anzunehmen, Hindernisse zu überwinden, das Risiko des Scheiterns auf sich zu nehmen. Ich würde positive und negative Erfahrungen machen. Und ich würde mich bemühen, sie gleichmütig anzunehmen und daraus zu lernen.

Während meiner philosophischen Überlegungen begriff ich plötzlich, dass die Herausforderung dieses Laufes nicht mehr darin bestand, die 700 Meilen zu schaffen, sondern sie loszulassen und das innere Gleichgewicht wieder zu finden. Vielleicht sollte ich doch damit beginnen mehr zu lächeln - ich übte ein bisschen und schon veränderte sich die Welt.

Ich genoss die frische Luft nach dem Regen und bemerkte plötzlich die Wildgänse, die in den riesigen Pfützen auf der Laufstrecke schwammen und ich konnte meinen LaufkameradInnen wieder zulächeln. Von den 19 Startern sollten nur 3 die 700 Meilen schaffen. Trotzdem waren Sie alle bis zum Schluss mit fröhlichen Mienen unterwegs. Die meisten hatten wohl längst in die Praxis umgesetzt, was für mich bis jetzt nur Theorie war: Noch wichtiger als Meilen zu sammeln war es, Freude zu sammeln.

Ich spürte auch die besondere Herzlichkeit der Helfer. Als ich noch gut laufen konnte, hatten sie mir applaudiert und nun brachten sie mir ihre Sympathie entgegen, um meine Enttäuschung zu mildern. Die freiwilligen Helfer waren die heimlichen Helden des Laufcamps. Manche von ihnen waren tagsüber berufstätig und halfen nachts im Camp. Zwischendurch schliefen sie ein paar Stunden im Auto.

Das waren also ein paar Einblicke in mein Laufabenteuer. 567 Meilen (912,5 km)  habe ich in den 13 Tagen zurückgelegt. Nie zuvor habe ich das Leben mit einer größeren Intensität erfahren.

So Gott will, möchte ich auch nächstes Jahr wieder dabei sein. Und ich werde bis dahin gleich drei Disziplinen trainieren: Laufen, Lächeln und Loslassen.

Magdalena aus Wien, 40 Jahre

 

To make the fastest progress,
Be an absolutely cheerful hero-warrior
And take both victory and failure
As parallel experience-rivers
Leading to the sea
Of progress-delight.

                                        Sri Chinmoy