Self-Transcendence Six-Day Race, New York 2004

Als ich im August 2003 am 47 Meilen-Lauf teilnahm und einen Tag später auch noch einen Marathon lief, meinten meine Freundinnen, dass ich damit eine Kandidatin für den  nächsten 6-Tage-Lauf sei. Ich fasste die Bemerkungen als Scherz auf, da ich mir damals nicht vorstellen konnte, in naher Zukunft an einem mehrtägigen Lauf teilzunehmen. Ich war noch nie 24 Stunden gelaufen, ja noch nicht einmal 12 Stunden.

Im folgenden Herbst nahm ich mir vor, bis April jedes Monat einen Marathon zu laufen. Das war eigentlich nicht als Training gedacht, sondern als etwas, das ich schon lange einmal probieren wollte. Als ich die Marathons geschafft hatte, war ich mutig genug, mich für den 6-Tage-Lauf in New York anzumelden.
Aber je näher der Termin kam, desto nervöser und unsicherer wurde ich. Am schlimmsten war es, als ich am Flughafen war und auf den Abflug wartete. Ich setzte mich in eine Ecke und weinte. Ich wollte nicht nach New York fliegen und schon gar nicht zu dem Lauf. Wie konnte ich mich nur anmelden?!

In New York angekommen, ging es mir zwar besser, aber dann machte ich mir Sorgen, wie ich mein Zelt aufstellen sollte. Camping hatte mich nie interessiert und ich hatte keine Ahnung wie ein Zelt funktioniert. Es stellte sich jedoch heraus, dass meine Sorgen unbegründet waren. Eine Läuferin, die plötzlich erkrankt war, lud mich ein, ihr bereits aufgebautes Zelt inklusive Bett, Matratze und Daunendecke zu benützen.
Aber es sollte noch besser kommen. Am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf aus Wien. Mein Mann teilte mir mit, dass meine Freundin Iris auf dem Weg nach New York war, um mir beim Lauf zu helfen. Sie hatte vor zwei Tagen von meinem Vorhaben erfahren und sich spontan entschieden zu kommen. Das war vielleicht eine Überraschung! Ich hatte gar nicht nach einer Helferin gesucht, aber der Himmel wusste wohl besser, wie sehr ich in den kommenden Tagen Unterstützung brauchen würde und hatte für mich gesorgt.

Dann begann der 6-Tage-Lauf. Nach ca. 20 Kilometern schmerzten meine Knie. Nach weiteren 20 Kilometern hatte ich schlimmes Kopfweh. Zum ersten Mal suchte ich das medizinische Zelt auf, um eine  chiropraktische Behandlung zu erhalten.
Von erfahrenen Läuferinnen hatte ich zuvor schon gehört, dass die ersten drei Tage besonders strapaziös seien. Diese Zeit braucht der Körper, um sich an die außergewöhnliche Belastung zu gewöhnen. Am Ende des dritten Tages tat mir alles weh. Außerdem hatte ich eine Entzündung an beiden Achillessehnen. Trotzdem hatte ich 155 Meilen bewältigt. (150 Meilen sollte man in den ersten drei Tagen laufen). Ich war erschöpft, aber sehr glücklich. Inzwischen waren auch einige Faxe mit guten Wünschen von Freunden aus Wien und Innsbruck eingetroffen. Ich hätte nie gedacht, wie wichtig die Ermutigung von Freunden in dieser Situation für mich sein würde.
Die Schmerzen kamen und gingen. Nach der Sehnenentzündung bekam ich Blasen an den Füßen, danach eine schlimme Verkühlung und zum Schluss noch Durchfall. Mitunter kam es aber auch vor, dass ich einige Stunden fast beschwerdefrei war und das Laufen wieder Freude machte. Ich lernte meinen Körper genau zu beobachten, um auftretende Symptome gleich zu behandeln und mögliche Leiden schon im Keim zu ersticken.
Gegen Ende des vierten Tages ging es mir recht gut. Ich lag an dritter Stelle und wurde etwas übermütig. Anstatt mein Ziel von 50 Meilen pro Tag im Auge zu behalten, versuchte ich, den Vorsprung gegenüber der Viertplatzierten zu vergrößern. Ich überanstrengte mich und das kalte, regnerische Wetter tat das Übrige. Am nächsten Tag lag ich mit Fieber im Bett. Vor dem Lauf hatte ich großen Respekt vor der physischen Anstrengung gehabt. Wie sehr ich aber auch an meine psychischen Grenzen herankommen würde, hatte ich nicht bedacht. Nun war es soweit. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, weinte und hätte am liebsten alles hinter mir gelassen (später erfuhr ich, dass auch andere solche Krisen zu bewältigen hatten).
Ich bin dann doch geblieben und dachte an eine Freundin in Wien, die mir zum Abschied gesagt hatte: "Du wirst sehen, dieser Lauf wird die beste Erfahrung deines Lebens!"
Nach dieser Zwangspause von einigen Stunden, am Beginn des fünften Tages, war mein Ziel von insgesamt 300 Meilen in weite Ferne gerückt. Ich konnte jetzt nur noch gehen. Sobald ich versuchte, auch nur ein kleines Stück zu laufen, bekam ich gleich wieder erhöhte Temperatur. Aber ich war ja nicht die einzige die nicht mehr laufen konnte. Sehr viele LäuferInnen konnten, entweder weil sie erschöpft oder verletzt waren, stunden- oder sogar tageweise nur noch gehen.
Ein sehr erfahrener Ultraläufer, mit dem ich unterwegs plauderte, machte mir Mut, mein Ziel von 300 Meilen doch noch weiter zu verfolgen. "Das ist ein Test," meinte er, "wie sehr du bereit bist, deine ganze Kraft und Konzentration auf dein Ziel zu richten. Ted Corbitt hat mit 80 Jahren an diesem Lauf teilgenommen. Er ist fast nur gegangen und hat über 50 Meilen am Tag gemacht. Wenn er das konnte, schaffst du das auch."
Dieses Gespräch gab mir neue Zuversicht und Stärke. Ich mobilisierte nochmals alle Kräfte, um meinen Traum von 300 Meilen zu verwirklichen.
Ich schaffte 301 Meilen und wurde Dritte. Ich war überglücklich und sehr dankbar. Mir war  klar, dass ich ohne die Ermutigung meiner Freunde, ohne die Unterstützung der Helfer und Läufer weder den Mut gehabt hätte, diesen Lauf zu beginnen noch die Stärke ihn zu beenden.
Obwohl ich bis zur Erschöpfung alles gegeben hatte, so war das Ergebnis für mich doch wie ein unerwartetes, großes Geschenk.
Der 6-Tage-Lauf war für mich viel mehr als eine sportliche Herausforderung. Rückblickend scheint mir, als hätte  ich in dieser einen Woche die Lebenserfahrung von 20 Jahren gemacht. Ich weiß jetzt auch, dass in mir - und in jedem von uns - ungezählte Möglichkeiten schlummern, die sehnsüchtig darauf warten Wirklichkeit zu werden. Und sie können Wirklichkeit werden, wenn wir an uns glauben und immer ein bisschen mehr tun als wir müssten.

Magdalena aus Wien, 40 Jahre