Arthada - Wien

Jedes Jahr veranstaltet das Sri Chinmoy Marathon Team International einen 12-Stunden-Walk in den Vereinigten Staaten, und zwar im Stadtteil Queens der Metropole New York. Das Rennen findet jeweils am 12. April statt und beginnt - je nachdem um welchen Wochentag es sich handelt, um 6:00 Uhr morgens oder 19:00 Uhr abends.
Im April 1996 entschied ich mich spontan einige Stunden vor dem Rennen daran teilzunehmen, ich hatte noch nie bei einem derartigen Wettkampf mitgemacht. Laufen konnte ich, da ich, nachdem ich mit dem langjährigen Laster "Rauchen" Schluss gemacht hatte, zur Kompensation der Sucht begonnen hatte, meinen Körper mit Laufen abzulenken. Aus der Not wurde eine Tugend und ich begann die Befriedigung, die mir das tägliche Joggen schenkte, mehr und mehr zu schätzen. Ich fing damals an, meinen Körper wieder mehr zu spüren, mich in ihm zunehmend wohler zu fühlen, was natürlich auch auf meine seelische Befindlichkeit Rückwirkungen hinterließ - wussten nicht schon die alten Griechen, dass "nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt"? Das regelmäßige Joggen verhalf mir übrigens dann auch zu einem intensiveren Kontakt zur Natur und so erlebte ich in der Folge auch die verschiedenen Jahreszeiten viel eindrücklicher mit, die alle ihre eigene Schönheit, ihren eigenen Reiz besitzen. Ja selbst ein kalter, nasser Joggingtag hat sein Gutes: Erst nach einem Lauf in der Kälte schätzt man die wohlige Wärme der Wohnung im vollen Maße.
So startete ich also bei diesem "Walk" und kopierte recht schnell die etwas seltsame Gehweise der schnellen Geher, die aufgrund der Regel, dass immer ein Fuß den Boden berühren muss, eher einem Watscheln als Gehen gleicht. Das Tempo im Spitzenfeld war so hoch, dass manch ein zufällig vorbeikommender Jogger nicht mithalten konnte. Möglicherweise kam mir der Umstand zugute, dass ich im Alltagsleben ständig unter Zeitdruck stehe, weshalb ich von Haus aus Laufschritt gewohnt war; so konnte ich anfangs im Spitzenfeld mithalten. Hatte ich mir ursprünglich erhofft, bei einem "Walk" etwas relaxter unterwegs zu sein als etwa bei einem Marathon oder Ultramarathon, so musste ich jetzt erkennen, dass beim "Renngehen" mit den gleichen "Feinden" wie bei Langstreckenläufen zu rechnen ist: Schmerzen, Unlustgefühle, der Gedanke "warum quäle ich mich eigentlich, wenn ich jetzt zum Beispiel genau so gut gemütlich in einem Restaurant speisen könnte, Erschöpfung usw.
Gott sei Dank lässt sich das Sri Chinmoy Marathon Team alles nur erdenkliche einfallen, um die Laufteilnehmer bei guter Laune und Inspiration zu halten. Dies wird nicht nur mit in regelmäßigen Abständen auf der Rennstrecke verteilten Verpflegungstischen erreicht; auch ein Zelt für medizinische Versorgung und Gratismassage war bereitgestellt. Oft kehrten meine Gedanken zum Massagetisch zurück, aber mein Ehrgeiz ließ es nicht zu, eine solche "Zeitverschwendung" einzugehen. Weiters sind entlang der Rennstrecke - einem Rundlauf von vielleicht drei Kilometern - wie übrigens bei fast allen Veranstaltungen des SCMTs verschiedene, mitunter recht enthusiastische Grüppchen von Helfern platziert, die auf unterschiedliche Weise die Wettkampfteilnehmer von unerbaulichen Gedanken ablenken und den Laufteilnehmer für die paar Sekunden, die er an ihnen vorbeigeht, auf positive Gefühlen/Gedanken umpolen. Da wird gesungen und musiziert, andere rezitieren inspirierende Gedichte (man findet übrigens auf der ganzen Laufstrecke kleine Täfelchen mit aufbauenden Sprüchen) und wieder andere feuern die Laufteilnehmer einfach nur mit aufmunternden Zurufen und Klatschen an. Bei den Ultraveranstaltungen des SCMTs sieht man mitunter auch einzelne Individuen, die auf sehr fantasievolle Weise versuchen, das Gefühl der Monotonie, das sich während diesen viele Stunden währenden Sportereignisse durchaus auch einmal beim einen oder anderen Teilnehmer einschleichen mag, zu verjagen: So machen sie allerlei "Larifari", stehen auf dem Kopf, jonglieren mit drei Bällen, fahren auf einem Einrad usw. Die Fröhlichkeit der Veranstalter bzw. deren Helfer wirkt ansteckend.
Im Verlauf dieses Rennens machte ich eine interessante Erfahrung, die mir die enge Verbindung zwischen Körper und Geist einmal mehr veranschaulichte: Viele Stunden nach dem Start, zu einem Zeitpunkt, als sich meine Inspiration Richtung Null bewegte und die Sehnen und Muskeln meiner Beine unerfreulich hartnäckig meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, erschien jemand auf der Rennstrecke, mit dem mich eine tiefe innere Beziehung verbindet. Plötzlich war meine Aufmerksamkeit auf erhebende Gefühle und Gedanken gerichtet und ich spürte meine Beine nicht mehr. Ich spulte nur mehr so eine Runde nach der anderen ab und vergaß ganz die Zeit, da war nur mehr dieses erhobene Gefühl und die Leichtigkeit, die mit diesem Gefühl, mit der Liebe verbunden ist. Zudem erhielt ich während des Rennens eine äußerst erfreuliche Botschaft, die mich abermals enorm beflügelte. Der "Push", den ich von dieser Nachricht erhielt, ließ mein Tempo - ohne dass ich es selbst bemerkte - so ansteigen, dass ich mich bald im Spitzenteam wieder fand. Obwohl heutzutage viele Coaches und Trainer immer mehr Aufmerksamkeit der inneren Vorbereitung der Sportler vor Wettkämpfen schenken, wird, glaube ich, die unter Umständen entscheidende Kraft des richtigen Bewusstseins der Sportler bei Wettkämpfen noch immer unterschätzt.
Im Spitzenfeld kristallisierte sich für mich vor allem ein großer "Gegner" heraus. Unglücklicherweise war er fest entschlossen, den Sieg, den er schon früher einmal errungen hatte, wieder nach hause zu tragen. Ursprünglich bin ich völlig ohne Erwartungen in den Wettkampf gegangen, weshalb ich ihn auch über große Strecken wirklich genießen konnte. Nun steckte mich jedoch der verbissene Ehrgeiz oder formulieren wir es positiver, der Kampfgeist meines Kollegens an; unversehens fand ich mich auf einer emotionalen Ebene wieder, wo ich den anderen unter allen Umständen besiegen wollte. Die Chance, der Beste zu sein, war zum Greifen nahe und eigentlich sollte dies zur Freude gereichen. Aber aus war es mit meiner inneren Freude, mit meinem inneren Frieden, und zwar mit einem Schlag; nun befand ich mich auf dem Schlachtfeld. Und ich hatte Pech oder genauer gesagt, die schlechtere Kondition. Mein Gegner, mit dem ich Seite an Seite eine Reihe von Runden in rasender Geschwindigkeit abspulte, setzte sich plötzlich mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung von mir ab. Zuerst versuchte ich mich noch unter Mobilisierung meiner letzten Reserven an seine Fersen zu hängen - wir hatten inzwischen ein Tempo, das nur mehr als Sprint bezeichnet werden konnte, immer wieder ließen wir außer-Konkurrenz-Läufer, die uns, das Spitzenteam, zu begleiten versuchten, hinter uns. Dann kehrte zu meiner Rettung mein vorheriges Bewusstsein zurück. Ich fand mich wieder damit ab, doch nicht der Beste zu sein und begnügte mich damit, einfach mein Bestes zu geben. Und schon konnte ich wieder in heiterem Bewusstsein mein eigenes Tempo gehen und meine positiven Gefühle kehrten zurück. Das "den anderen übertreffen wollen" - so habe ich mir gedacht - wirkt wie ein Gift, das einem die Freude stiehlt und die körperlichen Schmerzen und mentalen Spannungen wieder in Erinnerung ruft. Interessanter Weise habe ich später erfahren, dass mein "Konkurrent" schließlich vor Ablauf des Rennens im medizinischen Zelt gelandet war und dort so viel Zeit verbrachte, dass er keinen "Stockerlplatz" mehr erreichte.
Das schöne an sportlichen Herausforderungen ist nicht nur der Umstand, dass man nach der Vollbringung einer körperlichen Leistung körperliche und seelische Befriedigung und Freude erfährt, sondern auch, dass man dabei die Gelegenheit erhält, innerlich zu wachsen, zu einem etwas reiferen Menschen zu werden. Die Resultate bei den Läufen selbst spielen dabei für mich eine völlig untergeordnete Rolle; ja in der Regel habe ich am Abend eines Laufes meine Wettkampfzeiten schon längst wieder vergessen.